Sieben Stunden Ratssitzung…ein Lehrstück in demokratischer Kultur

Heute Morgen wurde ich mit leichten Verspannungserscheinungen im Rücken wach. Die Stühle in der Grugahalle sind nicht wirklich dafür gemacht, fast einen ganzen Arbeitstag drauf zu sitzen. Vor allem, wenn man vorher schon mindestens einen halben Arbeitstag hinter sich hat.

Aber die Mammut-Ratssitzung gestern war eine spannende Demonstration des Kaleidoskops von Instrumenten, die man als Kommunalpolitiker*in so zur Verfügung hat.

Es war formal und verbal so allehand zu bestaunen, das ich als Neuling*in so noch nicht live erlebt hatte.

In der Vorbereitung der Sitzung waren mir zum ersten Mal nicht fast alle Tagesordnungspunkte ziemlich neu. Einige der Themen waren aus der Ausschussarbeit und der Fraktionsarbeit schon vertraut. Das fühlte sich gut an. So, als ob Routine möglich ist. Noch nicht erreicht natürlich, aber als Schimmer am Horizont erkennbar.

Und das ist ja schon was bei einer 70 Punkte Tagesordnung.

Die formalen Punkte zu Beginn der Sitzung werden immer weniger.

Sehr gut, es wird inhaltlicher!

Aber dann.

Es gab nicht etwa 70 Themen auf der Tagesordnung. Nein, aber es gab zu vielen Punkten Anträge mehrerer Parteien.

In nicht einem Punkt gab es große Unterschiede zwischen den Anträgen der verschiedenen Parteien.

Es wurde im Laufe der Debatte gar die Vermutung geäußert, dass es manche der Anträge nur gäbe, um einem Antrag der eigenen Partei zustimmen zu können und nicht dem Antrag der Konkurrentin im Kampf um die Wähler*innenstimmen.

Allerdings gab es in Details dann doch an manchen Stellen kleine Unterschiede. Zum Bespiel taten sich einzelne Oppositionsanträge dadurch hervor, in der Sache das gleiche vorzuschlagen, wie alle anderen…es aber umsonst umsetzen zu wollen.

Coole Strategie.

Weil man genau weiß, dass der eigene Antrag eh keine Chance auf Mehrheit hat, kann man problemlos unrealistische und nicht ganz durchgerechnete Dinge fordern. Opposition ist offenbar nicht gänzlich unpraktisch.

Alle Anträge müssen natürlich begründet werden.

Das bringt Redezeit!

Und von der wurde gestern reichlich viel in Anspruch genommen. Der Oberbürgermeister hat ein Glöckchen am Platz, das er immer dann läutet, wenn jemand zu lange redet. Das war mehrfach der Fall.

In den vielen Wortbeiträgen gestern gab es auch viel Systematik zu beobachten.

Erst mal ist es für die Opposition oft wichtig, deutlich zu machen, dass die eigene Partei ja das Thema initiert hat. Initiative zu zeigen, erste*r zu sein, ist also wertvoll, besonders, wenn man nicht Teil der Gestaltungskooperation (woanders heißt das Koalition) ist.

Wenn dann also klar ist, dass die Mehrheit nur wegen der Opposition überhaupt über ein Thema redet, dann ist Statistik gefragt. Wer hat wann mit wem für oder gegen was gestimmt. Das ist deswegen ein super Thema, weil die Statistik natürlich immer mit einer Interpretation daher kommt. Und die kann niemals so stehen bleiben. Das verlangt selbstverständlich eine Richtigstellung.

Das alles kam mit gestern sehr ritualisiert vor. Es gibt ja doch einige erfahrene Ratsmitglieder*innen, die können durchaus virtuos auf dieser Klaviatur spielen.

Manchmal war das amüsant. Manchmal ist aber auch einfach langweilig.

Es gibt im Essener Rat auch Oppositionsparteien, die Menschen in den Rat entsenden, die selbigen offenbar mit einem Labor verwechseln. Da wurden Reden-Experimente gemacht. Ohne jetzt ins Detail gehen zu wollen, von spontanem lautem Lachen über die Absurdität von Thesen bis zur echten Verärgerung der großen Mehrheit des Hauses über einzelne Theorien war alles dabei.

Und dann hat man als Ratsfrau und Ratsherr natürlich auch noch ein paar formale Instrumente zur Hand, mit denen man Aufmerksamkeit auf sich lenken kann.

Für manche braucht man Unterstützer*innen, aber manche kann man auch einfach mal so als kleine Machtdemonstration einstreuen.

Der Versuch, Themen und Tagesordnungspunkte zu „schieben“ ist immer an eine Mehrheit gebunden. Das kann sehr hilfreich sein, denn manche Punkte landen erst wenige Stunden vor der Sitzung in den Händen der Ratsleute. Da ist es für berufstätige Ratsleute schier unmöglich, sich auf sowas dann noch noch vorzubereiten. Also macht es Sinn, das erst eine Sitzung später zu diskutieren.

Verschiedene Arten der Abstimmung, die man verlangen kann, ohne, dass sie gesetzlich oder nach der Geschäftsordnung notwendig sind, können auch strategisch eingesetzt werden.

Zum Beispiel kann ein Ratsmitglied verlangen, dass statt der üblichen Abstimmung am Platz mit Handzeichen, geheim abgestimmt wird. Was für die Wahl bestimmter Personalthemen nötig und sinnvoll ist, kann an anderer Stelle aber auch ein Instrument zum Unruhe stiften sein. Wenn ein geheimes Wahlergebnis beispielsweise die Mehrheitsverhältnisse abbildet, können Oppositionspolitiker behaupten, mit der Mehrheit gestimmt zu haben. Was, wenn es stimmt, dann automatisch bedeuteten würde, dass ein Mitglied der Mehrheit gegen die Mehrheitsposition abgestimmt hat. Oder umgekehrt.

Um so eine geheime Abstimmung zu erwirken, muss man aber einen bestimmten Prozentsatz der Ratsleute hinter sich haben. Das verhindert dieses Experiment manches mal. Gut so, denn es ist sehr zeitaufwändig, geheim zu wählen.

Etwas leichter ist es, eine namentliche Abstimmung zu erwirken. Sowas kann Sinn machen bei Themen, die wirklich eine Gewissensfrage sind. Das ist aber tatsächlich nicht immer der Fall. Darum ist das Instrument manchmal auch einfach nur ein hübsches Störfeuer. Denn dabei müssen alle Ratsleute mit Namen aufgerufen werden, einzelnen antworten, wie sie abstimmen wollen und anschließend muss gezählt werden. Das dauert deutlich länger, als eine normale Abstimmung.

Ein amüsantes Nebenthema sind die Handy-Klingeltöne der verschiedenen Ratsleute.

Natürlich schaltet niemand das Handy aus heutzutage, sondern höchstens lautlos. Aber es gibt immer wieder Kolleg*innen, die das vergessen. Und wie das eben so ist, ruft genau bei denen dann auch ganz sicher jemand an.

Diesmal hat es dreimal geklingelt. In allen Fällen erklang eine Melodie. So ganz normale Klingeltöne sind offenbar out.

Es war ein guter Tag für den Kinderschutzbund. Der Oberbürgermeister sammelt nämlich von den Vergesslichen aber am Telefon gefragten Menschen persönlich eine kleine Spende ein, deren Zweck er vorher benannt hat.

Ja, und alles zusammen dauerte dann sieben Stunden.

Es gab tatsächliche auch eine Pause zwischendurch. Wir bekamen etwas zu essen und konnten einmal Luft holen. Immerhin…

Der Vollständigkeit halber gilt es noch zu erwähnen, dass es in der Grugahalle eine Corona-Test-Unit gibt. Ich habe mich direkt mal spontan testen lassen. Klappt super. Und man fragt sich, wann es davon mehr Möglichkeiten gibt. Denn ich darf mich jetzt natürlich erst in einer Woche wieder testen lassen.

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